Innovation beginnt im Anderssein

Wer morgen noch Impulse setzen will, braucht heute mehr als Konformität. Psychologin Julie Simstich erklärt, warum neurodivergente Perspektiven die entscheidende Ressource der Zukunft sein könnten.

Innsbruck, Graz – Inklusion ist längst ein Schlagwort in der Arbeitswelt. Doch während Herkunft, Geschlecht oder körperliche Beeinträchtigungen in vielen Unternehmen zumindest thematisiert werden, bleibt ein Aspekt oft außen vor: neurodivergentes Denken. Dabei kann gerade das der Schlüssel zu mehr Innovationskraft, besserer Teamdynamik und erfolgreichem Employer Branding sein. Julie Simstich, Psychologin mit Schwerpunkt Arbeitspsychologie und Gründerin von „Hirnzigartig“, setzt sich für ein besseres Verständnis von Neurodiversität ein.

In ihren Coachings geht es oft um Selbstmanagement, Bewerbungssituationen oder den Umgang mit einer frischen Diagnose. Auf Teamebene unterstützt sie Führungskräfte im Umgang mit neurodivergenten Mitarbeitenden und hilft, Missverständnisse abzubauen. Ziel ist ein Arbeitsumfeld, in dem Unterschiede nicht als Störung, sondern als Chance gesehen werden.

Potenzial statt Problem

Simstich beschäftigt sich mit der Frage, wie Teams so zusammengestellt werden können, dass sie sich ergänzen. Ihr Fokus liegt dabei auf neurodivergenten Menschen – also Personen, deren Gehirne anders funktionieren als das neurotypische Mittelmaß. Dazu zählen etwa Menschen mit ADHS, Autismus, Dyslexie oder Dyspraxie.

„In der öffentlichen Debatte rund um Diversity und Inclusion spielt das bislang kaum eine Rolle. Es geht meist um äußerlich sichtbare Kategorien. Aber das Denken – und wie unterschiedlich Menschen Informationen verarbeiten, wahrnehmen oder mit Stress umgehen – wird viel zu selten thematisiert“, sagt Simstich. Und das hat Folgen: 30 bis 40 Prozent der neurodivergenten Erwachsenen sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. Bei autistischen Menschen liegt die Quote sogar bei rund 85 Prozent.

Dass so viele neurodivergente Menschen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden, liegt nicht nur an persönlichen Herausforderungen. Häufig beginnt die Benachteiligung schon im Bewerbungsprozess. Eine Studie aus Großbritannien zeigt, dass 50 Prozent der befragten Arbeitgeber:innen angaben, bewusst keine neurodivergenten Personen einstellen zu wollen. „Viele Firmen haben Angst, etwas falsch zu machen“, erklärt die Arbeitspsychologin.

Dabei sei neurodivergentes Denken keineswegs ein Defizit. Im Gegenteil: „ADHS zum Beispiel bringt oft Stärken mit, die sich mit den gefragtesten Kompetenzen der Zukunft überschneiden – Kreativität, Flexibilität, lösungsorientiertes Denken. Wer diese Potenziale nicht erkennt, lässt wertvolle Ressourcen liegen.“


Wer versteht, wie Menschen mit ADHS Informationen verarbeiten, entdeckt darin eine wichtige Ressource für kreative Prozesse.
 

Sich zeigen dürfen

Simstich warnt vor dem sogenannten Masking: Viele neurodivergente Menschen versuchen ihre Eigenheiten zu verstecken, um nicht aufzufallen. Das koste viel Energie – und verhindere, dass sie ihr volles Potenzial entfalten können. Die Voraussetzung, damit sich Menschen authentisch einbringen können, sei dabei psychologische Sicherheit. Damit meint Simstich ein Arbeitsumfeld, in dem Mitarbeitende das Gefühl haben, sie selbst sein zu dürfen, ohne Sanktionen oder Spott befürchten zu müssen. „Wer Angst hat, anders zu wirken oder unangepasst zu erscheinen, wird sich zurückhalten. Und dann geht all das verloren, was eigentlich bereichern könnte.“ Psychologische Sicherheit nütze nicht nur neurodivergenten Menschen. Sie verbessert die Fehlerkultur, fördert Innovation und schafft Raum für neue Perspektiven. „Das ist keine Gefälligkeit gegenüber Einzelnen – das bringt das ganze Team weiter“, betont Simstich.

Inklusion als Vorteil

Der kulturelle Wandel hin zu mehr Inklusion ist nicht nur moralisch geboten – er wird auch zunehmend zur wirtschaftlichen Notwendigkeit. „53 Prozent der Gen Z geben an, sich zumindest teilweise als neurodivergent zu empfinden. Und 80 Prozent dieser Generation sagen, dass sie gezielt für Unternehmen arbeiten wollen, die Neurodiversität fördern und das auch kommunizieren.“ Wer junge Talente gewinnen und halten will, sollte diese Zahlen ernst nehmen.

Vielfalt müsse nicht nur toleriert, sondern wirklich als Stärke gesehen werden. „Dazu braucht es Ehrlichkeit, Reflexion – und die Bereitschaft, auch einmal den Status quo infrage zu stellen.“ Wer das tut, werde belohnt: mit engagierten Mitarbeitenden, einer resilienteren Unternehmenskultur und einem Innovationsvorsprung, der dort beginnt, wo beispielsweise Künstliche Intelligenz an ihre Grenzen stößt. Denn echte kreative Lösungen entstehen oft gerade durch untypische Denkweisen.

Das Wichtigste aus dem Artikel: 

Herausforderungen im Arbeitsmarkt: Viele neurodivergente Menschen sind arbeitslos oder unterbeschäftigt, was nicht nur an persönlichen Herausforderungen liegt, sondern auch an Vorurteilen im Bewerbungsprozess. Eine britische Studie zeigt, dass viele Arbeitgeber bewusst keine neurodivergenten Personen einstellen wollen, aus Angst, Fehler zu machen. Dabei bringen neurodivergente Menschen oft wertvolle Stärken wie Kreativität und Flexibilität mit.

Neurodiversität als Schlüssel zur Innovation: Neurodiversität, die Menschen mit ADHS, Autismus, Dyslexie oder Dyspraxie umfasst, kann zu mehr Innovationskraft und besserer Teamdynamik führen. Julie Simstich, eine Psychologin, setzt sich dafür ein, dass Unterschiede als Chancen und nicht als Störungen gesehen werden.

Psychologische Sicherheit und Masking: Simstich warnt vor dem Masking, bei dem neurodivergente Menschen ihre Eigenheiten verstecken, um nicht aufzufallen. Dies kostet viel Energie und hindert sie daran, ihr volles Potenzial zu entfalten. Psychologische Sicherheit ist entscheidend, damit Mitarbeitende sich authentisch einbringen können, ohne Angst vor Sanktionen oder Spott.

Von Natalie Hagleitner, erschienen am 03.05.2025 in der Tiroler Tageszeitung

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