Immer kurz vor dem Auffliegen

Warum fühlen sich viele erfolgreiche Menschen als Hochstapler? Michaela Muthig, Medizinerin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie, erklärt dieses „Impostor-Syndrom“ und weiß, wie man gegen den inneren Kritiker ankommt.

Frau Muthig, in Ihrem Buch „Und morgen fliege ich auf. Vom Gefühl, den Erfolg nicht verdient zu haben“ geht es um das Impostor-Syndrom. Was versteht man darunter?

Michaela Muthig: Dabei handelt es sich um eine Art Verzerrung der Wahrnehmung. Menschen, die sehr erfolgreich und kompetent sind, fühlen sich dennoch völlig unfähig und haben das Gefühl, ihre Erfolge nicht verdient zu haben. Sie leben unter dem Druck, irgendwann einmal zu versagen und als Hochstapler enttarnt zu werden.

Warum haben Sie das erforscht?

Muthig: Zum einen, weil ich selbst betroffen bin und für mich Wege gesucht habe, damit umzugehen. Zum anderen, weil ich im Laufe meiner Coaching-Tätigkeit viele Menschen kennen gelernt habe, die deswegen Hilfe gesucht haben.

Welche Menschen sind hauptsächlich betroffen?

Muthig: Es gibt bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, welche die Entstehung eines Impostor-Syndroms begünstigen, beispielsweise ein geringer Selbstwert, hoher Perfektionismus, Introvertiertheit und die Neigung, äußere Ereignisse auf sich selbst zu beziehen. Gefährdet sind aber vor allem auch Menschen in Vorreiterrollen, etwa der erste Akademiker aus einer Arbeiterfamilie oder auch Angehörige von Minderheiten und Menschen in Spitzenpositionen.

Viele vom Impostor-Syndrom Betroffene haben beruflich Erfolg und ernten Anerkennung. Warum glauben sie dennoch nicht an sich?

Muthig: Sie denken, dass sie ihre Erfolge durch Zufall oder aufgrund von Sympathie erreicht haben und nicht aufgrund ihrer Leistungen. Dadurch steigen der innere Druck und die Angst, Erwartungen zu enttäuschen. Sie glauben immer, nicht gut genug zu sein. Typisch sind Überzeugungen, die immer überzogen sind und nie zur Gänze erfüllt werden können.

Welche?

Muthig: Es gibt fünf Impostor-Typen. Der Experten-Typ meint, dass man nur Experte ist, wenn man alles über ein Thema weiß. Das Naturtalent ist der Überzeugung, dass wahre Begabung einem einfach zufliegt und dass, wer für den Erfolg arbeiten muss, nicht talentiert genug ist. Der Einzelkämpfer denkt, dass man Erfolg nur allein erzielen sollte. Erfolge, die ihm Team erworben wurden, sind für diesen Typ nichts wert. Der Perfektionist glaubt, dass eine Leistung nur zählt, wenn sie fehlerfrei ist, und der Superheld erwartet Perfektion in allen Lebensbereichen.


Menschen, die vom Impostor-Syndrom betroffen sind, haben oft Schwierigkeiten, eigene Erfolge als solche anzuerkennen. 

Wie kann sich das Impostor-Syndrom auf die Karriere auswirken?

Muthig: Betroffene bleiben in der Regel unter ihren Möglichkeiten. Sie wechseln häufig die Stelle, weil sie sich mit der wachsenden Verantwortung überfordert fühlen. Gelegentlich werden sie entgegen ihrer Überzeugung befördert. Dies kann dann zu so starkem Stress führen, dass sie kündigen oder krank werden.

Betroffene sabotieren sich also selbst?

Muthig: Aus Angst davor, zu versagen, greifen sie meist zu zwei Bewältigungsstrategien. Entweder sie bereiten sich (viel zu) intensiv auf die Aufgabe vor oder sie schieben die Aufgabe aus Panik so lange vor sich her, bis sie diese in letzter Minute erledigen müssen. Beide Strategien führen dazu, dass sich das Gefühl, total unfähig zu sein, sowie die Angst vor der nächsten Aufgabe verstärken.

Bis wohin ist es normal, an sich zu zweifeln, und wann bekommt es Krankheitswert?

Muthig: Selbstzweifel an sich sind nicht schlecht, weil wir uns dadurch selbst reflektieren, uns verbessern und wachsen. Schwierig wird es, wenn Selbstzweifel trotz zunehmender Kompetenz nicht besser, sondern stärker werden. Wenn Lebensqualität und die Arbeitszufriedenheit darunter leiden und der Berufsalltag nicht mehr gut bewältigt werden kann, sollte man auf jeden Fall etwas dagegen tun, da sonst eine psychische Erkrankung droht.

Gilt das Impostor-Syndrom offiziell als Krankheit?

Muthig: Nein. Es ist nicht in der internationalen Klassifikation für Krankheiten zu finden. Darum sollte es eigentlich auch Impostor-Phänomen heißen.

Was kann man gegen das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit tun?

Muthig: Das Wichtigste ist, sich zu informieren. Dadurch können Betroffene die Erfahrung machen, dass sie nicht allein mit diesem Problem sind. Auch die eigenen Gedanken auszusprechen, kann das Gefühl reduzieren. Darüber hinaus hilft es, sich Erfolge bewusst zu machen und Überzeugungen zu hinterfragen.

Welche Kriterien können Betroffene heranziehen, um sich Erfolge aufzuzeigen?

Muthig: Hilfreich ist vor allem das Feedback von anderen. Gerade wenn eine deutliche Diskrepanz auffällt zwischen Außenwirkung und eigener Einschätzung, sollten die Betroffenen daran denken, dass ihre Wahrnehmung verzerrt ist. Auch sollten sie das bisher Erreichte, beispielsweise bestandene Prüfungen, gewonnene Preise oder Beförderungen, als Beweise ihrer eigenen Fähigkeit hernehmen.

Von Natascha Mair, erschienen am 26.08.2023 in der Tiroler Tageszeitung

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